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Mitte-Mythos

In einem Artikel für Die Zeit hat Michael Naumann, der Intellektuelle unter den SPD-Rechten, seine tief empfundene Feindschaft gegenüber der Linkspartei zu einer programmatischen Grundsatzfrage erhoben. Denn in der »Freigabe von Koalitionsoptionen mit der Linkspartei Oskar Lafontaines und Gregor Gysis« sieht der Hamburger Politiker die Ursache für eine »Vertrauens- und Identitätskrise«, in der sich die SPD befinde. Zwar stimmt der Befund, die Ursache aber liegt im genauen Gegenteil des von Naumann behaupteten »Sündenfalls«. Von allen Wahlkampfversprechen, die von deutschen Sozialdemokraten im Verlauf ihrer langen Geschichte gebrochen wurden, hat den Wähler die (dann ohnedies wieder zurückgenommene) Rücknahme der Verkündung, mit der Partei Lafontaines und Gysis in keiner Weise kooperieren zu wollen, wohl am wenigsten hart getroffen. Der empörte Aufschrei aus der Mitte des Volkes über die »hinterrücks« betriebene Aufwertung der Linken ist eine Projektion der Meinungseliten. Die Vertrauens- und Identitätskrise der SPD liegt in einer Politik begründet, die Naumann ungebrochen fortzusetzen wünscht.

Die Schröder-Fischer-Bande folgte sicher nicht dem Auftrag ihrer Wähler, als sie den Sozialstaat in seinem Kern destruierte. Und Kohl ist sicher nicht deshalb abgewählt worden, weil er den Sozialabbau auf die lange Bank geschoben hatte. Die Vertrauens- und Identitätskrise der deutschen Sozialdemokratie ergab sich daraus, daß die Hartz-IV-Gesetze von einer Regierung durchgesetzt wurden, die in der Hoffnung auf eine soziale Wende gewählt worden war und dabei auch noch das Kunststück zuwege brachte, sozialdemokratische Reformbegrifflichkeit in ihr Gegenteil zu verkehren. Darin bestand freilich ihr wirklicher, mit den Wählermassen nicht verhandelbarer Auftrag.

Der von Schröder vollzogene Politikwechsel beinhaltete die Freisetzung des neoliberalen Projekts aus den Fesseln eines kulturell zurückgebliebenen Konservativismus. Die liberale Hegemonie bedurfte des »befreienden Moments«, das eine Partei mit einer gewissen Emanzipationsgeschichte besser auszudrücken verstand als das bürgerliche Traditionslager. Die Neue Mitte empfahl sich als Träger des neoliberalen Zeitgeistes. Doch war sie als Garant ideologischer Stabilität nicht mehr zu gebrauchen, als sie selbst in den Strudel gesellschaftlicher Destabilisierung geriet. Statt glaubwürdig die »Souveränität des Individuums« zu verkörpern, wurden die Mittelständler zum Sprachrohr individueller Abstiegsängste.

Doch der Mythos der Mitte lebt ungebrochen fort. Für Michael Naumann ist die SPD ausschließlich über die Mitte definiert, und diese definiert sich wiederum über die Abgrenzung nach links. »Zuerst einmal gilt es«, schreibt er, »Vertrauen in der Mitte der Gesellschaft zurückzuerobern. Das bedeutet: in Westdeutschland eine klare Absage an zukünftige Tolerierungs- oder Koalitionsabkommen mit der ›Linken‹ auf allen Ebenen«. Seltsam genug, daß er diesen Grundsatz nur für den Westen gelten lassen will – Ostdeutschland befindet sich offenbar immer noch außerhalb der Grenze des westlichen Zivilisationsmodells. Für unanständig hält er den Tanz mit dem bösen Wolf in jedem Fall. »Jedermann in der SPD ahnt«, schürt Naumann Zweifel an der moralischen Integrität seiner Widersacher, »daß der tüchtige Regierende Bürgermeister Berlins spätestens im Jahr 2013 mit den Stimmen der ›Linken‹ zum Bundeskanzler gewählt werden möchte.«

Für die Partei Die Linke stellt sich freilich die Frage, wer schlimmeres gegen sie im Schilde führt: Michael Naumann oder Klaus Wowereit? Naumann, der die Linkspartei mit einer antikommunistischen Wut bekämpft, als wäre der Ostwestkonflikt noch voll im Gang? Oder Wowereit, der die Anpassungsbereitschaft der Nachfolgepartei der Nachfolgepartei der SED an »ökonomische Sachzwänge« zu einer Zwangsvereinigung unter neoliberalen Vorzeichen zu nutzen verstand? Der Eiferer oder der Zyniker?

Doch ist Naumann nicht bloß ein Eiferer, der einem abstrakten Antikommunismus huldigt. Was ihn verfolgt, ist nicht das Gespenst des Kommunismus, sondern die Traditionssozialdemokratie. Die hat zwar nichts wirklich Weltbewegendes vollbracht. Denn auch die Zähmung des Kapitalismus, mit der sie ihre historische Rolle begründete, war der revolutionären Drohkulisse zuzuschreiben, die erst ihren Reformeifer stimulierte. Nun aber gilt allein die Erinnerung an Reformen, die eine Verbesserung der Lage der werktätigen Menschen bewirkten, den Agenda 2010-Agenten als unerträgliches Ärgernis.

Werner Pirker

Aus: junge Welt, 29.03.2008

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