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Griechenland ]
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Rebellion in Griechenland Die Aufstände in Griechenland sind nicht einzig auf die Ermordung von Alexis Grigoropoulos zurückzuführen. Was viele Kommentatoren nicht verstehen bzw. nicht eingestehen, ist, dass sich die massiven Proteste gegen das griechische System des Neoliberalismus an sich richten. 2,5 Millionen der Lohnabhängigen (das entspricht einer Quote von über 50 %) müssen mit dem Mindestlohn von 704 Euro im Monat zurechtkommen. Die Verschuldung der privaten Haushalte hat sich in den letzten sieben Jahren von 17 auf 93 Milliarden Euro mehr als verfünffacht. Extrem hoch ist die Arbeitslosenquote der unter 25-Jährigen (23 Prozent) und der Frauen (12 Prozent). Im März 2008 hat die Regierung mehrere Generalstreiks ignoriert und eine antisoziale Rentenreform beschlossen, die eine Erhöhung des Eintrittsalters bei gleichzeitiger Verringerung der Bezüge zur Folge hat. Frauen werden in bestimmten Fällen fünf Jahre länger arbeiten müssen, bis sie das Renteneintrittsalter erreichen (1). Neben ihrer Umverteilungspolitik strebt die Athener Regierung großangelegte Privatisierungsmaßnahmen an. So ist geplant, den halbstaatlichen Energiekonzern DIE, der 90 % des in Griechenland verbrauchten Stroms erzeugt, an den deutschen Energieriesen RWE zu verscherbeln. Die Häfen Piräus und Thessaloniki, noch zu 75 % in Staatsbesitz, sollen ebenfalls an ausländische Kartelle verkauft werden. Auslese statt Ausbildung Der griechische Oberschulsystem ist auf ein einziges Ziel ausgerichtet: Die elitären Eingangsprüfungen für die Uni, die „Panhellenischen Examina“. Dort müssen die Schüler das ihnen zuvor eingetrichterte Wissen möglichst wörtlich reproduzieren. Das „Frontistireo“, die private und kostenintensive Nachhilfeschule, hat sich zu einem riesigen Markt entwickelt. Das System der Auslese setzt sich in den Hochschulen und auf dem Arbeitsmarkt fort. Absolventen aus einfachen Verhältnissen sind mit frischausgebildeten Akademikern konfrontiert, die oftmals viel kürzer studiert, aber dafür eine Menge bezahlt haben. Korruption und Vetternwirtschaft bei der Arbeitsplatzvergabe erledigen den Rest. Im europäischen Vergleich ist die Arbeitslosenquote der unter 25-jährigen die höchste innerhalb der EU. (2) Auch die weltweite Finanzkrise ist nicht spurlos an Griechenland vorbeigegangen. Die Banken haben alle neue Darlehen und Dispokredite eingefroren und eine drastische Zinserhöhung durchgeführt, die den Menschen die Luft abschneidet. Die Regierung schaut dabei tatenlos zu. Ihre jüngst beschlossene Finanzspritze (Volumen 28 Milliarden Euro) ist mit keinen ernsthaften Auflagen für die Banken verbunden. Kontinuität der Ausbeutung Zwar richtet sich die Aufstandswelle in Griechenland gegen die amtierende konservative Regierung, doch zugleich hat sie auch einen antisystemischen Kern. Fast niemand gibt sich noch irgendwelchen Illusionen hin, dass eine sozialdemokratische Regierung eine wirkliche Alternative wäre. Die Menschen haben nicht vergessen, dass die bis 2004 regierende sozialdemokratische PASOK die Teil- und Komplett-Privatisierung staatlicher Unternehmen eingeleitet hat. Um die Staatsbetriebe zu „flexibilisieren“, übernahm die PASOK die jeweils liberalsten Konzepte, die sie weltweit finden konnte: Aus Holland wurden die Teilzeitarbeit, aus den USA das Modell individueller statt kollektiver Arbeitsverträge und aus Großbritannien der „flexible Acht-Stunden-Tag“ übernommen, aus dem man in Griechenland aber gleich einen Neun-Stunden-Tag machte. Die wöchentliche Arbeitszeit kann seitdem bis zu 48 Stunden betragen. Auch außenpolitisch gibt es eine parteiübergreifende Kontinuität, die sich in einem klaren Bekenntnis zu EU und NATO äußert, entgegen des teils massiven Widerstands der Bevölkerung. 1999 stimmte die PASOK-Regierung – trotz verbalen Jammerns – dem Angriffskrieg gegen Jugoslawien zu, 2001 votierte sie für die EU-Terrorliste. Regierung Karamanlis: Widerspruch gegen US-Hegemonie? Es ist zwar zutreffend, dass die amtierende Regierung der rechtsliberalen Nea Dimokratia im Januar 2008 einen Affront in der NATO-Gemeinschaft provoziert hat. Damals wurde in Sofia der Bau der Burgas-Alexandroupolis-Ölpipeline besiegelt, die russisches Erdöl auf dem Boden des Schwarzen Meeres über Bulgarien bis in die griechische Ägäis transportieren soll. Mit diesem Projekt – neben vielen anderen – erhofft sich Russland weitere Kontrolle über die zentralasiatischen Erdgas- und Ölreserven. Aber Washington und Brüssel denken nicht daran, diese rohstoffreiche Region Russland (und China) zu überlassen. Westliche Diplomaten sind Dauergäste bei Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres. US-Militärs halten sich in Aserbaidschan und beim usbekischen Regime in Taschkent auf, Brüssel entsendet Emissäre nach Kasachstan. Konsens ist, mittels wirtschaftlicher und militärischer Allianzen Russlands Einfluss zu verringern. Die Hegemonialkräfte der EU sind transatlantisch ausgerichtet und kleine Mitgliedsländer werden im Zweifelsfall dezent gewarnt: Im November 2008 hat die EU erstmals in ihrer Geschichte Finanzhilfen für ein Mitgliedsland gestrichen – es trifft das oben genannte Bulgarien (3). Die These innerimperialistischer Widersprüche (4) ist stark übertrieben. Fakt ist, dass Athen 2008 mehrfach und überzeugend einen proamerikanischen Standpunkt eingenommen hat: Beim NATO-Gipfel im April 2008 wurde der Aufbau eines südosteuropäischen Systems zur Abwehr von Kurzstreckenwaffen „aus Ländern des Nahen Ostens“ beschlossen, das auch Griechenland umfasst. Im Juni 2008 fand ein israelisch-griechisches Luftmanöver statt, an dem mehr als hundert Kampfflugzeuge der US-amerikanischen Typen F-15 und F-16 beteiligt waren – ein Szenario, das die Eröffnung eines Luftkrieges gegen den Iran simulierte (5). 1941 bis 2008: Eine Widerstandsgeschichte Das geografische Zentrum der Revolte ist der Athener Stadtteil Exarcheia, der heute von Organisationen wie der AK (Antiexousiastiki Kinisi - Antiautoritäre Bewegung) dominiert wird. Exarcheia ist ein historisches Symbol des Widerstands. Von dort aus wurde im November 1973 die Militärdiktatur mit massiven Protesten herausgefordert und die Niederlage der Obristen eingeleitet – was unter den Studenten einen hohen Blutzoll einforderte. Bereits im zweiten Weltkrieg war Exarcheia ein Zentrum des Widerstands, damals gegen die Nazi-Besatzung (1941-1944). Auf dem zwischen Exarcheia und Gyzi, einem angrenzenden Viertel, gelegenen Boulevard Alexandras liefen die deutschen Militärlastwagen ständig Gefahr, in Hinterhalte der Guerilla zu geraten. Nach der Befreiung Griechenlands folgte der Bürgerkrieg (1944-1949). Exarcheia war eines der Lagezentren der Volksbefreiungsarmee (ELAS). Es gilt als sicher, dass ohne die massiven Interventionen von Briten und Amerikanern die Kommunisten den griechischen Bürgerkrieg gewonnen hätten. Die heutige KKE knüpft jedoch nicht mehr an die kämpferischen Traditionen der Vergangenheit an. Aleka Papariga, seit 17 Jahren Generalsekretärin, hat sich am 8. Dezember 2008 von Militanten distanziert und „Selbstjustiz“ und „blinde Gewalt“ verurteilt (6). Angeblich gebe es eine Minderheit, die für die Randale verantwortlich ist, und eine Mehrheit, der diese Militanz übergestülpt wird. Man fragt sich, welcher Teufel die KKE reitet, ausgerechnet in diesem Augenblick lautstark die Klasse definieren zu müssen und eine Trennlinie zwischen landesweiter Revolte und der antisystemischen Grundstimmung in der Bevölkerung aufzubauen. Diese Keileintreibung wird vornehmlich von den Systemparteien begrüßt. Die griechische Rebellion ist imponierend und zweifelsohne von internationaler Bedeutung. Weltweit wird wahrgenommen, dass sich auch in den kapitalistischen Zentren Widerstand gegen die herrschende Weltordnung regen kann. Dabei handelt es sich um keinen punktuellen Widerstand à la Seattle, Genua oder Heiligendamm. Die griechische Jugend ist landesweit aufgestanden und genießt die Sympathie erheblicher Teile der Bevölkerung. Die Eliten sind ratlos und verunsichert wie seit Jahrzenten nicht mehr. Anarchismus versus Klassenkampf? Bürgerliche Medien aber auch Teile der Linken verbreiten die These, die Rebellion sei unmoralisch bis reaktionär, da sie sich auch gegen Besitzer kleiner Läden etc. richte. Schnell ist von staatlich gelenkten Provokateuren die Rede. Als ob es dem Staat möglich wäre, in über 60 Städten auf dem Festland und auf den Inseln konzertiert Agent Provocateur einzusetzen. Die DKP bringt es sogar fertig, im Kontext mit den Aufständen von neofaschistischen Tendenzen zu sprechen (7). Man darf gespannt sein, wie lange es noch dauert, bis das Abfackeln einer Bank als antisemitisch diffamiert wird. Obwohl vor allem in den urbanen Zentren antiautoritäre Gruppen ausschlaggebend scheinen, wäre es stark verkürzt, die Revolte als anarchistisch zu bezeichnen. Alleine der Umstand, dass 60 Prozent der Griechen die Proteste als „soziale Erhebung“ bezeichnen (8), spricht gegen solche plumpe Klassifizierungen. Auf der anderen Seite ist festzustellen, dass die kommunistische Linke völlig überrascht wurde. Die Ratlosigkeit versucht man mit Aufrufen gegen Gewalt zu kompensieren, gepaart mit der Forderung nach Klassenorganisierung – eine Organisierung, die dann freilich von der eigenen Partei kontrolliert werden soll. Selbst Strömungen wie KOE oder KKE-ML, die sich offen mit den Protesten solidarisieren, können in Wahrheit nicht viel mehr tun, als die Ereignisse wohlwollend zu kommentieren. Von Hegemonie kann keine Rede sein. Kampf dem oligarchischen Konsens Was in Griechenland geschieht, ist kein bewusster Klassenkampf. Dennoch befinden wir uns in einem historischen Moment. Die liberale Oligarchie herrscht im Inneren nicht durch offene Unterdrückung (einmal von den Sicherheitsgesetzen abgesehen), sondern durch einen klassenübergreifenden Konsens, der sich aus einem „alternativlosen“ Parlamentarismus sowie aus Individualismus, Konsumismus und Abstiegsangst zusammensetzt. Am 6. Dezember 2008 hat die Jugend Griechenlands damit begonnen, mit diesem Konsens, der teilweise von der Linken mitgetragen wird, aufzuräumen. Die Rebellion mag zwar keinen Applaus von der KKE und anderen ernten, sie stößt jedoch auf offenen Zuspruch in den verschiedensten Gesellschaftsschichten, was viel entscheidender ist. Das Konsensmodell der internationalen Oligarchie wurde herausgefordert wie noch nie seit Fukuyamas „Ende der Geschichte“. Sollte versucht werden, dieser Herausforderung mit mehr Autoritarismus zu begegnen, werden sich die Widersprüche weiter verschärfen. Ernsthafte Konzessionen an die Massen, die über symbolische Geschenke hinausgehen, sind innerhalb des Systems indes nicht möglich. Die Entwicklung mag offen sein, aber die durch die hellenische Revolte gesetzten Ausgangsbedingungen sind vielversprechend. Initiativ e.V., 10. Dezember 2008 1 http://www.jungewelt.de/2008/02-14/018.php |
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